Flüchtlingspolitik: Es geht nicht nur um Zahlen, es geht um Menschen

Landespolitik

Integrationsministerin Bilkay Öney äußert sich in einem Namensbeitrag für den Newsletter des SPD-Landesverbands umfassend zur aktuellen Flüchtlingspolitik. Ihr Credo: Es geht nicht nur um Zahlen, es geht um Menschen!

Allein im Zeitraum von 2012 bis heute haben sich die Zugänge von Asylbewerbern nach Deutschland und Baden-Württemberg nahezu vervierfacht. Für dieses Jahr rechnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) allein für Baden-Württemberg mit 26.000 Erstantragstellern und weiteren 4.000 Personen, die einen Folgeantrag auf Asyl stellen.

Damit haben wir noch längst nicht die Zahlen der 90er Jahre erreicht, als in Deutschland über 400.000 Asylbewerber untergebracht werden mussten. Doch es bedarf großer gemeinsamer politischer Anstrengungen mit Blick auf die weiterhin steigenden Zahlen und die nie endenden Krisen auf der Welt.

1. Wir müssen die gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik neu ausrichten

Angesichts der Zugangszahlen und schwierigen wirtschaftlichen Situation in einigen EU-Ländern gibt es ein Missverhältnis bei der Verteilung innerhalb der EU. Die sogenannte „Dublin-Regelung“ funktioniert als Instrument der europäischen Flüchtlingspolitik nicht. Danach müssen Flüchtlinge dort in Europa ihren Asylantrag stellen, wo sie erstmals in der EU eintreffen.

Bilkay Öney in Wolfach

Da einige EU-Länder erhebliche Defizite im humanitären Umgang mit Asylsuchenden aufweisen, ziehen die Flüchtlinge aber lieber weiter nach Skandinavien und Westeuropa. Zwingend erforderlich sind deshalb einheitliche europäische Standards für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen.

Was wir in Europa zudem brauchen, ist ein gerechter „Verteilschlüssel“ analog zum in Deutschland geltenden „Königsteiner Schlüssel“ – unter Beachtung von Einwohnerzahl, Fläche, Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen. Damit könnten Aufnahmequoten für die Mitgliedstaaten der EU festlegt werden.

2. Neben dem Asylrecht braucht es andere Kanäle für legale Zuwanderung

Deutschland ist ein Einwanderungsland ohne ein Einwanderungsrecht. Dies zwingt Menschen dazu, den Umweg über das Asylrecht zu versuchen, obwohl sie keine politische Verfolgung in ihren Herkunftsstaaten erfahren. Häufig wollen die Menschen wirtschaftlicher Not oder gesellschaftlicher Diskriminierung entkommen.

Bilkay Öney in Tübingen

Mit der Bluecard zur Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland und der im Jahr 2012 im Ausländerrecht verankerten Möglichkeit für qualifizierte Fachkräfte, einen Aufenthaltstitel zum Zwecke der Arbeitssuche für die Dauer von sechs Monaten zu erhalten, besitzen wir nur Mosaiksteine eines Einwanderungsrechts. Wir brauchen aber ein Einwanderungsgesetz aus einem Guss.

3. Der Bund muss den Ländern und Kommunen bei Investitionen und bei Liegenschaften für die Flüchtlingsunterbringung helfen

In Deutschland tragen die Länder und Kommunen die Hauptlast, wenn es darum geht, Asylbewerber unterzubringen. Es braucht mehr Engagement – des Bundes. Jedes Bundesland muss in diesen Tagen seine Erstaufnahmekapazitäten erhöhen und auch die Landkreise haben einen großen Bedarf an Plätzen für die vorläufige Unterbringung. Die Länder und Kommunen werden das unter dem gegenwärtigen Druck und Zeitzwang nicht allein stemmen können.

Deswegen muss der Bund den Ländern geeignete Bundesliegenschaften vorrangig für die Flüchtlingserstaufnahme kostengünstig oder in Krisensituationen kostenfrei zur Verfügung stellen. Zudem braucht es dringend ein Investitionsprogramm des Bundes, das Kommunen beim Neubau von Flüchtlingsunterkünften unterstützt.

Auch die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen ist mangelhaft. Deshalb muss überlegt werden, wie die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in das System der gesetzlichen Krankenkassen überführt werden kann, ohne die Kosten für die Versichertengemeinschaft zu steigern. Wir setzen uns für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ein, damit die Kommunen die Sozial- und Gesundheitskosten nicht allein tragen müssen, sondern der Bund hilft.

4. Die Kostenfrage könnte auch dadurch gelöst werden, dass Asylbewerber schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt finden

Die meisten Flüchtlinge wollen arbeiten und wollen ihren Beitrag für unsere Gesellschaft leisten. Was wir immer in Gesprächen mit Flüchtlingen hören, ist die Klage, dass sie zur Untätigkeit und zum Warten auf eine Entscheidung verdammt sind.

Mit der Reduzierung des Arbeitsverbots auf drei Monate und der Verkürzung der sog. Vorrangprüfung auf 15 Monate sind wichtige Meilensteine gesetzt worden. Das war eine überfällige Umkehr weg von einer abschreckenden Asylpolitik hin zu einer Integrationspolitik für Asylbewerber und Geduldete. Vor diesem Hintergrund war es wichtig, dass Baden-Württemberg dem Asylkompromiss zugestimmt hat.

Bilkay Öney in Reutlingen

Auch wenn die Kritik an der sicheren Herkunftsstaatenregelung in Teilen verständlich ist, darf man nicht vergessen, dass Serbien und Mazedonien EU-Anwärter sind. In Bosnien sind zudem nicht nur Roma von Armut betroffen. In diesen Ländern braucht es dringend Antidiskriminierungsmaßnahmen für Roma, aber auch Entwicklungshilfe für die Länder. Das kann das Asylrecht nicht leisten. Solche Maßnahmen müssen außerhalb des Asylrechts angesiedelt werden.

5. Baden-Württemberg braucht dauerhaft eine dezentrale Struktur der Erstaufnahme

Als Ende der 90er Jahre die Zahlen der Asylbewerber zurückgingen, hat Baden-Württemberg seine dezentralen Strukturen in der Erstaufnahme abgebaut und in Karlsruhe konzentriert. Das war damals dem Kostenargument geschuldet, erweist sich jetzt aber bei stark steigender Flüchtlingszahlen als Fehler. Der Flüchtlingsansturm überlastet die Verwaltungsstrukturen im Regierungspräsidium und in der Stadt Karlsruhe.

Zu einem großen Engpass kam es, als drei Bundesländer (Bayern, NRW, Berlin) gleichzeitig ihre Erstaufnahme weitgehend stoppten und in Baden-Württemberg innerhalb von zehn Tagen etwa 3.000 Flüchtlinge untergebracht werden mussten. Zwar haben wir im Land die Erstaufnahmekapazitäten in den letzten zwei Jahren verdreifacht, aber für Notsituationen braucht es manchmal auch kurzfristige Notlösungen – und nur mit diesen Notlösungen konnten wir dafür sorgen, dass die Neuankömmlingen ein Dach über dem Kopf erhielten.

Für eine gerechtere Ressourcenaufteilung im Land und für ein gutes soziales Klima müssen dauerhaft mindestens 4.000 Plätze in allen vier Regierungsbezirken bereitgestellt werden. In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge müssen wir sicherstellen, dass alle Verfahrensschritte wie Personenfeststellungen, Asylantragsstellung, Anhörung und Gesundheitsuntersuchung in den einzelnen Landeserstaufnahmestellen durchgeführt werden.

Bilkay Öney in Freiburg

Wir möchten diese Strukturen im Einvernehmen mit den betroffenen Kommunen aufbauen, aber dieser Prozess ist nicht einfach und benötigt Zeit. Deswegen richten wir in Meßstetten auf zwei Jahre befristet eine Landeserstaufnahmestelle ein, um Karlsruhe zu entlasten. In Mannheim haben wir eine befristete Außenstelle geschaffen. Mit weiteren Kommunen wie Ellwangen und Tübingen führen wir derzeit konstruktive Gespräche, damit bald auch weitere Erstaufnahmestellen im Land entstehen können.

6. Ohne die Kommunen geht es nicht

Baden-Württembergs Flüchtlingspolitik ruht auf drei Säulen: Auf der Erstaufnahme durch das Land für bis zu drei Monaten, auf der vorläufigen Unterbringung in den Stadt- und Landkreisen bis längstens zwei Jahre und auf der Anschlussunterbringung in den Städten und Gemeinden. In Zeiten steigender Flüchtlingszahlen ist das ein Großprojekt, das gemeinsames solidarisches Handeln aller benötigt.

Durch das Flüchtlingsaufnahmegesetz von 2013 erhöhen wir die pauschale Kostenerstattung an die Stadt- und Landkreise um 60 Prozent, das sind 13.972 Euro pro Erstantragsteller bis 2016. Aber wir haben die Sorge der Stadt- und Landkreise ernst genommen, die uns sagen, dass diese Summe nicht ausreichend ist. Deswegen überprüfen wir derzeit die Pauschalen auf ihre Auskömmlichkeit. Auf Basis der Ist-Ausgaben von 2013 werden wir eine gemeinsame Lösung mit den Kreisen finden.

Mit unserer Konzeption einer dezentralen Unterbringung der Erstaufnahme wollen wir soweit möglich den Kreisen Luft verschaffen, damit sie ihre Plätze wieder aufstocken können und nicht durch hohe Zugänge überrascht werden. Da braucht es aber auch die kommunale Solidarität. Denn es geht nicht nur um Zahlen, sondern es geht um Menschen.

 

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